Leseprobe aus "Jackpot"
KAPITEL 1
»Arschloch«, dachte Humboldt und sagte: »Ich sehe
das Problem.« Er rümpfte die Nase. »50 Gramm. 50
Gramm!« wiederholte Tanner mit Nachdruck. »Und
2 Franken, lächerlich.« Rote Flecken zeigten sich auf
Tanners Hals, was sie immer taten, wenn er aufgeregt
war. »Wie konntest Du daraus nur eine Geschichte zimmern?
« Humboldt sass ganz vorne auf der Stuhlkante
und überlegte sich, ob Arschlochs Frage eine Antwort
verdiente. Die Sekunden verstrichen. Die Luft im Chefbüro
– eine Mischung aus abgestandenem Zigarettenrauch
und Schweiss – war zum Schneiden dick. »Ein
Konsumthema …«, begann Humboldt schliesslich,
machte eine Pause, betrachtete seine Fingerspitzen,
was er immer tat, wenn er nicht mehr weiterwusste,
und fasste neuen Mut: »Bringt mir mehr Konsumthemen,
verlangst Du ständig. Das war eins. Und ein gutes
dazu!« Die Geschichte war folgende: Die Bäckerei
Simoni verlangt für ihren Advents-Panettone, der seit
Mitte Oktober im Verkauf ist, 2 Franken mehr als letztes
Jahr, und macht ihn gleichzeitig 50 Gramm leichter.
»Simonis Schummeleien« war schliesslich der Titel
des Einspalters am letzten Mittwoch. Simoni nahm
zu den Vorwürfen im Artikel keine Stellung, sondern
wählte umgehend Tanners Nummer und machte dem
Chefredaktor des Toggenburger Volksfreundes klar,
was mit dem fünfstelligen Werbebudget der Bäckerei
Simoni geschehen wird, sollte das Blatt nicht eine
Gegendarstellung abdrucken. »Gegendarstellung?«
krächzte Tanner in sein Telefon. Da gab es nichts Anderes
darzustellen. 2 Franken, 50 Gramm. Das waren
die Tatsachen. »Ich lasse mir was einfallen« versprach
Tanner Simoni und hängte auf.
»Also keine Gegendarstellung. Sonst eine Idee,
Humboldt?« Die Frage war rhetorisch gemeint. Carl
Humboldt war mit Baujahr 1970 der älteste Redaktor
im fünfköpfigen Team beim Volksfreund. Vor einem
Jahr erst heuerte er hier an. Die Bemühungen um Arbeit,
welche die Arbeitslosenkasse von ihm verlangte,
trugen unverhofft Früchte und trieben Humboldt in die
voralpine Provinz. Und hier fiel er auf, nicht nur wegen
seiner Grösse von 1 Meter 90. Die Kurzhaarfrisur mit
ersten grauen Ansätzen war immer top gepflegt, gekleidet
war er immer mit Hemd, im Sommer ein Baumwoll-
oder Leinenhemd, im Winter ein solches aus Flanell.
Humboldt lenkte den Blick von seinen Fingerspitzen
wieder zurück auf Tanner, kratzte sich diskret den
beginnenden Bauchansatz, betrachtete die Schweissflecken unter Tanners Achseln und liess seinen Kopf leicht nach links fallen. Was für ein verheissungsvoller Wochenstart. Schweigen. Humboldt räusperte sich: »Hier geht’s um die Glaubwürdigkeit.« Pause. «Nicht nur um meine, sondern auch die Deiner verdammten Postille.« Mittlerweile roch es doch sehr streng hier.
Samuel Tanner, übergewichtig, leicht untersetzt und
Chef hier seit Menschengedenken, drehte sich langsam
einmal um 360 Grad in seinem Bürostuhl, um
etwas Zeit zu gewinnen. »Du lieferst mir bis Mitte Woche
eine Geschichte über Simonis Panettone. Wie verdammt
glutenfrei der ist, möglicherweise vegan, was
weiss ich … Oder dass die Kunden extra von Zürich
nach Krauchtal fahren wegen dem exquisiten Stück
Teig. Irgendwas halt!« Humboldt betrachtete mit ein
wenig Sorge, wie die roten Flecken am Hals langsam
über Tanners Doppelkinn nach oben wanderten, so
dass mittlerweile sein ganzes Gesicht ein einheitliches
Rot annahm. Eine weitere Pause. Tanners Bürostuhl
quietschte bei der leichtesten Bewegung leise. Das
uralt iPhone 4 in Humboldts Hosensack, vorsichtshalber
auf lautlos gestellt, vibrierte kurz. Wohl der falsche
Zeitpunkt, einen Blick darauf zu werfen. »Nun denn,
wenn das alles ist«, murmelte Humboldt und machte
sich daran, aufzustehen und den Rückzug anzutreten.
Tanner erhob sich ebenfalls und baute sich, obwohl
mindestens einen Kopf kleiner, vor Humboldt auf:
»Bieg das wieder gerade, oder der Verlust unserer
verfickten Glaubwürdigkeit wird ein absurdes Luxusproblem bleiben! Tu was. Mach was!!« bellte er ihn
schliesslich an. »Und was von beidem zuerst?« fragte
Humboldt nach einer kurzen Pause unschuldig zurück.
KAPITEL 2
»Tock, tock.« Dumpf hallten Simonis Schritte im 30’000
Liter fassenden Mehltank im Keller der Bäckerei.
Halbjährliche Inspektion wegen möglichem Schimmelbefall.
An einem Montag, weil da die Bäckerei
geschlossen hat. Und im Oktober, bevor der Weihnachtsrummel losging. Vor allem die Nahtstellen sind heikel und wurden darum besonders gründlich von
der Taschenlampe ausgeleuchtet. Die berühmte Ouverture zu Rossinis »Diebische Elster« dröhnte laut
durch das Kellergewölbe. Italienische Oper! Wie er
sie liebte. Eine Zuneigung, die leider gänzlich einseitig
war. Wenn Unmusikalität sich in einem Menschen
manifestierte, dann in der Person von Federico Simoni:
Mitte 40, Sohn italienischer Einwanderer und Meisterbäcker in zweiter Generation. Simonis lautes Pfeifen begleitete Rossinis meisterlich gesetzte Tonfolgen weder melodisch noch rhythmisch akkurat. Was freilich niemandem weniger auffiel als dem gut gelaunten Simoni.
Der kauerte auf dem Boden des Tanks, befreite
mit einem feinen Pinselchen die letzten Mehlreste aus
den Ritzen, leuchtete diese sorgfältig aus und quittierte
das Nichtvorhandensein dunkler Flecken mit
einem zufriedenen Grunzen.
Simoni war so in die wunderbare Musik versunken,
dass er nicht bemerkte, wie das skurrile Treiben am
Boden des Tanks durch die Luke aus vier Metern Höhe
beobachtet wurde. Was für eine grossartige Inszenierung!
Mit Rossini als Soundtrack, mit dem Bäcker und
seinem Mehl als Hauptdarsteller und dem Keller der
Bäckerei als Kulisse. Und so griff ein dunkel gekleideter
Mann oben nach dem ersten der aufgeschnittenen
Mehlsäcke, die bereitstanden, um den Tank für
die nächsten Wochen wieder aufzufüllen. Er leuchtete
mit seiner Taschenlampe nach unten zu Simoni. Der,
irritiert von einem zweiten Lichtkegel, unterbrach das
Pfeifkonzert, rückte seine Brille zurecht und schaute
verwirrt nach oben, zur Quelle des Lichtstrahls. Was
für ein Blick: Er zeigte totale Ratlosigkeit, aber auch
die vage Erkenntnis, dass hier in dem Moment etwas
fürchterlich schief lief. Die ersten 20 Kilo Mehl trafen
Simonis Gesicht frontal pünktlich zu einem Crescendo
Rossinis. Die Brille fiel zu Boden und wurde vom Mehl
begraben. Augenblicklich raubte der feine aufgewirbelte
Staub Simoni Sicht und Atem. Bei der nächsten
Packung Mehl erwischte es Simonis Taschenlampe,
die ihm aus der Hand rutschte und beim Aufprall ihren
Dienst quittierte. Verzweifelt versuchte der Bäcker, in
der Dunkelheit und ohne Brille die Orientierung nicht
zu verlieren. Das Bemühen, Augen und Rachen vom
Mehl zu befreien, wurden von der dritten und vierten
Ladung von oben zunichte gemacht. Simoni verlor nun
das Gleichgewicht und rutschte in seinen mit einer feinen Plastikfolie überzogenen Schuhen auf dem Mehl
aus. Unaufhörlich folgten weitere Ladungen Mehl in
immer schnellerem Rhythmus. Fast schien es, als ob
der Täter Rossinis Tempo aufnahm. Der Boden war
bereits mit einer dicken Mehlschicht bedeckt. Auf allen
Vieren tastete Simoni vergeblich nach Brille oder
Lampe und irrte immer zielloser im nebligen Weiss
umher. Er musste stark husten, und mit jedem Mal
füllte sich seine Lunge weiter mit dem feinen weissen
Pulver. Im Zehnsekundentakt folgte nun eine Ladung
Mehl nach der anderen und begrub Simoni immer tiefer
und tiefer unter einer feinen, weissen Mehlschicht.
Er atmete nur noch stossweise und schien sich seinem
Schicksal ergeben zu haben. Nach weiteren fünf
Minuten Mehldusche war – abgesehen von Rossinis
fröhlicher Begleitung – endlich Ruhe. Die Leiter, über
die Simoni den Tank betreten hatte, wurde nun ohne
Eile zurück nach oben gezogen. Der Strahl der Taschenlampe suchte durch den Mehlstaub ein letztes
Mal den Boden ab, der nun so friedlich und ruhig dalag
wie eine frisch verschneite Winterlandschaft. Keine
Spur mehr von Simoni. Er war unter dem Mehl begraben.
Zur Sicherheit folgten weitere zehn Säcke. Dann
war Schluss. Als letztes fiel aus der Luke ein kleiner
metallener Gegenstand ins Mehl. Der verschwand augenblicklich im Weiss. Dann wurde vom ungebetenen
Besuch die Luke zum Tank vorsichtig und fachkundig
verschlossen. Nur Rossini musizierte aus den Boxen
unverdrossen weiter. Der Chor sang von einem glücklichen Tag: Oh, che giorno fortunato!
KAPITEL 3
Wenn Humboldt etwas richtig gut konnte, dann nichts
tun. Er war ein Meister der Prokrastination. Und bevor
Sie jetzt nachschlagen müssen: Er schob gerne Aufgaben
vor sich her. Eigentlich beschreibt das hässliche
Fremdwort eine Arbeitsstörung. Aber für ihn war das
keine Störung. Humboldt fühlte sich wohl dabei. Er war
charakterlich das pure Gegenteil seines berühmten
Namensvetters, des umtriebigen deutschen Entdeckers
Alexander von Humboldt. Carl war faul, meistens,
ausser einmal täglich beim Schreiben. Seine Jobs
verdankte er aber in der Tat meist seinem Nachnamen
Humboldt. Sein mittlerweile pensionierter Vater war
ein ebenso geschätzter wie auch gefürchteter Dozent
für Deutsche Sprache an jeder Journalismus-Schule
nördlich der Alpen, Verfasser diverser Standardwerke
auf diesem Gebiet, mit immer akkurat gescheitelter
Silbermähne und, etwas vom wenigen, das er seinem
Sohn vererbte, stechend blauen Augen. Die Familienverhältnisse waren – obwohl Humboldts in sehr wohlhabenden Verhältnissen in einem Herrschaftshaus
an der Zürcher Goldküste wohnten, schwierig. Humboldts Mutter verliess ihren tyrannischen Ehemann,
als Carl zehn Jahre alt war. Sie brannte mit einem von
Seniors Studenten nach Deutschland durch und brach
jeden Kontakt zu ihren Männern ab. So wurde Carl
von einer strengen Haushälterin aufgezogen: Mathilda,
gesegnet mit kupferroten Haaren, die sie stets
ordentlich zu einem Dutt frisierte, und mit einem Ge-
ruch und einem Herz aus Stahl. Ihr konnte Carl nie
etwas recht machen, und so wuchs im Halbwüchsigen
bereits die Erkenntnis heran, dass er gerade so gut
nichts machen konnte als etwas mutmasslich Schlechtes,
das jedenfalls nicht gefiel. Mathilda, so hätte jeder
Hobbypsychologe diagnostiziert, war darüber hinaus
schuld an Carls Autismus der Damenwelt gegenüber:
Bindungsängste wegen mangelnder Mutterliebe und
übermächtiger weiblicher Autoritätsperson.
Sein Vater war oft ausser Haus, unterrichtete an
Schulen im ganzen deutschsprachigen Raum. Sie
hatten zeitlebens kein besonders herzliches Verhältnis:
»Du bist ein talentierter Taugenichts«, meinte der
Senior zum Junior. Immerhin: Der Name Humboldt
führte immer noch zu leichten Beben in Journalistenkreisen.
So glaubte mancher Chefredaktor, sich mit
dem Namen auch Qualität einzukaufen. Wie vor knapp
einem Jahr auch Samuel Tanner vom Volksfreund. Er
war der letzte in der Reihe, was damals weder er noch
Humboldt ahnten.
»Und? Wie lief’s?« fragte Sunny, als Humboldt das
Chefbüro verliess. »So gut wie’s unter diesen Umständen gehen konnte«, antwortete er. »Dicke Luft momentan. Und wenn Du ihm nicht das Deo wechselst
oder dafür sorgst, dass er überhaupt eines benutzt,
befürchte ich für den Frühling mit steigenden Temperaturen noch Schlimmeres.« Sonja Krüger, dank
ihrem sonnigen Gemüt von Humboldt und dem Rest
der kümmerlichen Truppe »Sunny« gerufen, war ein
ehemaliges Foto-Modell und auch heute noch, geschätzt
Mitte 30 und seit rund zwei Jahren Tanners
Assistentin, eine erhabene Erscheinung: Eine Frau, die
wo immer sie auftrat, auffiel, nicht zu letzt dank ihrer
Grösse von knapp einem Meter 80. Sunny überging
Humboldts Anspielung wegen dem Deo routiniert und
kommentarlos. Von ihrer Liaison zu Tanner wusste die
gesamte Redaktion, obwohl sich die beiden nach Kräften bemühten, diese so diskret wie möglich zu halten.
Humboldt fragte sich regelmässig, was eine Frau wie
Sunny an einem Mann wie Tanner reizt. Die Macht vielleicht? Oder das fast schon mütterliche Bemühen, so
einen wie Tanner noch umzuerziehen, ja ansatzweise
mit gestalten zu können?
»Wenn Du mir in den nächsten Tagen einen Termin
bei Simoni organisierst …«, bat Humboldt Sunny. »Simonis Schummeleien?« fragte sie zurück. »50 Gramm,
2 Franken«, bestätigte er. Da vibrierte sein Handy ein
zweites Mal im Hosensack. Später. Genug geärgert
für heute. Jetzt war es Zeit fürs Feierabendbier. »Bis
morgen!« Sunny sah Humboldt nach: Schöner Arsch,
dachte sie. Dabei meinte sie das Körperteil und noch
nicht den Charakter.
KAPITEL 4
Schauen Sie sich das Dorf von oben an, wie bei einer
Modelleisenbahn. Sofern Sie überhaupt etwas sehen,
denn der Nebel hält sich jetzt schon, zu Beginn des
Herbsts, hartnäckig im engen Tal des Toggenburgs.
Krauchtal war mit knapp 1000 Einwohnern eine der
kleinsten Gemeinden weit und breit und wirkte bei
solchem Wetter besonders verschlafen. Das Inventar
war mittlerweile recht übersichtlich: Zentral gelegen
ein Bahnhof mit Zugshalt jede Stunde, einmal talauf-,
einmal talabwärts. Immerhin im Takt. Die Umfahrungsstrasse, vor drei Jahren mit Pomp eröffnet, sorgte zwar für weniger Abgase, sog aber gleichzeitig noch das letzte Leben aus dem Dorf. Strukturwandel nannte sich das wohl in Ökonomen-Deutsch. Wer konnte floh ins Unterland, in die Stadt. Die Jungen verliessen das Dorf spätestens fürs Studium und kehrten nicht mehr zurück. Handwerksbetriebe verschwanden, eine Drogerie und die Metzgerei ebenso. Die Spezialitäten-Bäckerei Simoni hielt sich tapfer, dazu das Restaurant Leuen mit dem Mehrzwecksaal für Gemeindeversammlungen und das Weihnachtsessen des FC Krauchtal, der auf einem holprigen Fussballfeld eine kleine Junioren- und eine jedes Jahr weiter dezimierte Senioren-Abteilung beschäftigt hielt. Ausserdem gab es ein kleines Schulhaus mit noch vier Klassen. Der Skilift, der gleich daneben im Winter vor zwei Jahren letztmals einige wenige Verwegene 500 Meter weit einen Hügel hochzog, wird wohl auch diesen Winter nicht mehr in Betrieb gehen. Die Menschen hier
wohnten meist in kleinen Häuschen aus den 50er
oder 60er Jahren, die über die Hügel verstreut lagen,
oder in einem der schmucklosen Mehrfamilienhäuser,
die zwischen 1985 und 1995 zwischen Bahnhof und
Umfahrungsstrasse entstanden. Blieb nur noch die Lokal-Redaktion des »Volksfreunds«, die sich günstigst
in den verwaisten Büroräumlichkeiten einer ehemaligen
Grossschreinerei einmietete und die Zentrale in
Kirchwil mit Lokalstoff aus dem ganzen Toggenburg
versorgte. In Druck ging das monatlich immer dünner
werdende Blatt längst im Unterland. Gerüchte über
eine Schliessung der lokalen Aussenstelle machten
immer wieder die Runde, was der Laune der dort Beschäftigten nicht ausserordentlich förderlich war.
Während Humboldt durch das verlassene Dorf zu
seinem verfrühten Feierabend-Bier schlenderte, nahm
er sich vor, mal wieder nachzufragen, was an den Gerüchten dran sei, dass auch der letzte Lebensmittelladen, eine Migros mit dem Nötigsten für den täglichen Bedarf, das Dorf verlasse. Gute Geschichten waren rar im Tal.
Da stand sie: Haare und Augen so dunkel wie Öl,
eine Haut so ebenmässig wie frisch geschliffener
Kristall, meist mit einem Duft nach feinstem Patchouli
verziert, dazu ein Gang wie ein Engel auf der Wolke:
Shaila war eine Schönheit, mehr noch: die ästhetische
Perfektion in der Gestalt eines Weibs. Und damit der
Hauptgrund, warum das »Red Tiger« überhaupt noch
ab und zu Gäste hatte. Ein bescheuerter Name für ein
Lokal in einem Dorf wie Krauchtal, geschuldet der ehe16
maligen Wirtin und Mutter von Shaila: einer Frau aus
Sri Lanka, die Mitte der achtziger Jahre vor dem Bürgerkrieg floh mit nichts als ihrem geretteten Leben und einem Kochbuch. »Tiger ist schlauer als Löwe«, meinte sie damals mit Blick auf den gastronomischen Konkurrenten im Dorf und so wurde aus dem Sternen ein asiatisch-indisches Restaurant mit exotischem Namen. In der freien Wildbahn liefen sich Tiger und Löwe zwar nie über den Weg. Im kleinen Krauchtal hingegen hatten das »Red Tiger« und der »Leuen« dasselbe, immer übersichtlicher werdende Jagdgebiet, das zur Hauptsache aus wenigen Jass-Runden und Familienfeiern bestand.
Der Kobelt Franz, ein Einheimischer, Goalie in der Seniorenfussballmannschaft des FC Krauchtal,
das weil gross gewachsen, mit schlaksigem Gang und
gelassenem Gemüt, verliebte sich auf der Stelle in die
Frau aus Sri Lanka. Ihr Kind, eben die Shaila, kam exakt
zehn Monate nach der deren ersten Begegnung
auf die Welt und schien sich das beste aus den beiden
Gen-Pools geschnappt zu haben. Leider war dem
Hausherrn kein langes Leben beschert: Über 20 Jahre
Wirteleben forderten ihren Tribut, und so starb der
Kobelt Franz mit 55 an einem Herzinfarkt zwischen
den Pfosten des FC Krauchtal. Gerade noch hatte er
einen Penalty abgewehrt, da brach er unter der Last
des Jubels seiner Mitspieler zusammen. Shailas Mutter,
nun ihrerseits mit gebrochenem Herzen und mit
wachsendem Heimweh, kehrte ein Jahr später ins nun
friedliche und dank Tourismus wieder hoffnungsvolle
Sri Lanka zurück und hinterliess ihrer Tochter, die hier
aufgewachsen war und nicht mitwollte, das Lokal.
»Carl. Wie schön!« Shaila war eine der wenigen im
Dorf, die ihn beim Vornamen nannte. »Wie immer: Ein
Tiger?« »Gerne!« Curry lag in der Luft. Der Gesellschaft
Shailas zu Liebe trank Humboldt das importierte und
darum stark überteuerte indische Gebräu. Dazu servierte
sie eine Schale mit gerösteten Kichererbsen.
Humboldt war schnell zufrieden. Er genoss es, in Shailas
Nähe zu sein. Denn sie war nicht nur schön, sondern
ebenso schlau, wenn nicht sogar noch schlauer
als schön. Shaila war nicht nur Humboldts beste
Freundin, sondern – wenn er ehrlich war – momentan
auch die einzige. So war es auch leicht, die beste
zu sein. Natürlich hatte Humboldt viele Bekanntschaften,
Frauen mochten grosse Männer wie ihn. Leichtes
Spiel, am Anfang. Aber immer, wenn’s ernst wurde,
flüchtete er. Das letzte Mal kostete ihn seine Flucht
den Job. Die Lehre aus seiner Affäre mit Gisela W.,
Chefredaktorin der Mittelland-Zeitung: Don’t fuck your
boss. Zumindest diese Gefahr drohte hier beim Volksfreund nicht, dachte Humboldt mit einer Mischung aus spontaner Dankbarkeit und leichter Übelkeit.
Das Lokal war leer. Typisch für einen nebligen
Abend im Oktober. Schön schäumte das Tiger im Glas.
Humboldt nahm einen kräftigen Schluck und erzählte
Shaila vom Gespräch mit Tanner, was sie etwas unsensibel aber korrekt mit »Luxusproblem!« kommentierte.
»Und sonst?« Humboldt betrachtete nachdenklich
seine Fingerspitzen. Da war doch noch was. Kurz
bevor das Schweigen peinlich wurde, fielen ihm die
SMS wieder ein. Er fingerte sein iPhone aus der Hosentasche,
und da waren sie, die beiden Mitteilungen:
Heute, 15.21
Gute Geschichte! Interesiert?
Heute, 15.43
Geben Sie heute noch Bescheid.
Sonst verfellt das Angebot
Humboldt kannte die Nummer des Absenders nicht.
Es war keiner seiner abgespeicherten Kontakte.
»Schau mal«, sagte er und zeigte Shaila die Nachrichten.
Eine wunderbare schmale Falte bildete sich auf
ihrer Stirn: »Schlampig«, meinte sie. »Was schlampig?«
»Zwei Schreibfehler. Ausserdem fehlt der Punkt. Hinter
das Wort »Angebot« gehört ein Punkt. Unsorgfältig
jedenfalls, oder er hatte es eilig.« »Oder sie.« »Sie?«
»Das könnte auch eine Frau geschrieben haben.«
»Kaum. Ein Ausrufezeichen hinter »Gute Geschichte«.
Das sieht ganz nach einem Mann aus. Angeber.«
KAPITEL 5
Humboldt lag auf dem Sofa im Zimmer 11, trank billigen
Rotwein, wenn auch Bio, und wartete. Im Pay-TV
lief ein Fussballmatch, Premier League, dritter gegen
elfter. Wer tut sich so was an? Der Ton war abgedreht.
Humboldt hatte so immerhin das Gefühl, nicht allein
zu sein, und wurde doch nicht gestört beim Nichtstun.
»Bin interessiert!« schrieb er noch im Red Tiger
während dem dritten Bier. »Nimm das Ausrufezeichen
weg«, riet Shaila. »Bleib entspannt und mach einen
Punkt.« Das war vor drei Stunden. Seither wartete
Humboldt. Seine ›Wohnung‹ war ein Hotelzimmer im
Leuen: hartes Bett, enge Dusche, kleine Küche, das
letzte Mal Anfang der 90er Jahre renoviert. Es roch
etwas nach abgestandener Feuchtigkeit. »Bekommst
Du nicht mehr raus aus den alten Mauern«, meinte
der Leuen-Chef Milo Babic schulterzuckend. Verwohnt
nannte man so was wohl. Das Zimmer war ein Spiegel
von Krauchtal, von Humboldt selbst: die besten Zeiten
schon hinter sich. Der Vorteil der Unterkunft war: 750
im Monat, inklusive. Also finanziell seinem Journalistenlohn angemessen. Und Babic nahm so mit immerhineinem der zwölf Zimmer des Hauses noch etwas Geld ein. Wohnen im Leuen, Essen und Trinken beim Tiger. Umgeben von Raubtieren.
Humboldt hatte Shaila sehr lieb, und wer weiss, was
wäre, wenn es da nicht den beträchtlichen Altersunterschied gäbe. Sie war Ende Zwanzig, er bald 50. Dazu kam die latente Unlust von Humboldt, sich auf
richtige Arbeit einzulassen, das galt für Beziehungsarbeit
ebenso. So waren sie immerhin beste Freunde,
without benefits. Vorläufig. Humboldt für sich schloss
da nichts aus.
Ein unspektakuläres 0:0 wurde abgepfiffen, und bevor
die Expertenrunde ihre unerträgliche Analyse beginnen
konnte, zappte sich Humboldt durch die restlichen
knapp hundert Sender und schaltete schliesslich
den Kasten aus. Noch immer keine Antwort. Vielleicht
war der Punkt anstelle des Ausrufezeichens doch zu
entspannt gewesen, zu wenig interessiert. Eine gute
Geschichte, das hätte ihm im Volksfreund etwas Luft
verschafft und ihm möglicherweise sogar den Kreuzgang
zu Simoni erspart. Entspannt bleiben … Shaila
hatte gut reden. Ein weiteres Glas Rotwein unterstützt
die Entspannung, dachte Humboldt und griff nach der
Flasche, als sein Handy diskret laut gab:
Heute, 22.51
187 Millionen für Krauchtal. Rekord-
Jackpot geht ins Toggenburg!
Humboldt starrte aufs Display, trank einen grossen
Schluck Wein und tippte:
22.52
Quelle?
22.53
Der Gewinner!
KAPITEL 6
Die Zunge fühlte sich am nächsten Morgen leicht pelzig
an. Da half alles Bio nichts. Aber wenigstens war
der Rest des Kopfs nach einer ausgiebigen Dusche
und dem zweiten Kaffee schnell wieder klar. Zeichen
von beginnendem Alkoholismus?
Leider meldete sich Shaila gestern Abend nicht
mehr. Es war auch schon nach 23 Uhr, als er ihr die aufregende Neuigkeit mitteilen wollte. Denn Humboldt
war auch leicht angetrunken klar: Soweit machten die
SMS Sinn. Tatsächlich gab es letzten Freitag bei der
Ziehung der Euromillions nur einen Gewinner, der einen
dreistelligen Millionenbetrag einstrich. Die Nachricht
stand am Samstag auch im Toggenburger Volksfreund
auf der Seite mit den vermischten Meldungen.
Wohin das Geld fliesst, war in der ersten kurzen Agentur-Meldung freilich im Dunkeln geblieben. Humboldt erinnerte sich: Wurde da nicht üblicherweise das Land, sogar die Region, wo der Schein aufgegeben wurde, auf Nachfrage bekannt gegeben? Keine grossartige Recherche, aber so lange es niemand anderes tat, war es Humboldts Primeur. Und den konnte er, angesichts des Panettone-Gates, gut gebrauchen. Das war der Plan für heute. So was hatte er selten.
Schöne Schlagzeile jedenfalls: Millionen für Krauchtal.
Je länger Humboldt über die mögliche Geschichte
nachdachte, desto besser gefiel sie ihm. Ein Dorf wird
von Millionen geflutet: Wer ist der Gewinner? Alle rätseln, verdächtigen einander. Der Bäcker den Wirt, der
Pfarrer den Ministranten, der Schüler den Lehrer. Wer
verhält sich auffällig? Gibt als erster ohne Grund eine
Runde im Leuen aus? Und was passiert mit den Millionen an Steuereinnahmen, die fällig werden? Wo nicht viel ist, wächst der Neid besonders gut.
Das Ding konnte tatsächlich gross werden. Mit einer
für seine Verhältnisse ungewohnten Dynamik wählte
Humboldt ein frisches Hemd und kontrollierte – das
hatte ihm die verflossene Gisela beigebracht – im Badezimmer-Spiegel die Nasenhaare, respektive die gewünschte Abwesenheit derselben.
Vom Leuen in die Redaktion des Volksfreunds war
es nur ein gut fünfminütiger Spaziergang. Fast alles in
Krauchtal lässt sich übrigens in fünf Minuten zu Fuss
erreichen, ausser Shailas Red Tiger, das etwas ausserhalb lag. »Richte Tanner aus, er soll mir den Aufmacher für morgen freihalten«, bat Humboldt Sunny, als er die Redaktion betrat. »So früh, so dynamisch? Wie
kommt’s? Und nicht einmal ein Guten Morgen liebe
Sunny, hervorragend siehst Du heut mal wieder aus!«
Nachdem es keine Anzeichen für einen kurzen Flirt
gab, rief Sunny ihm nach: »Aber gerne doch!« Schon
knallte die Türe zu Humboldts Büro zu.
Bis Mittag brauchte er Gewissheit, ob die Jackpot-
Geschichte tatsächlich eine war. Er schob einen
Stapel mit Notizen für den Nachruf auf eine vor Monatsfrist verstorbene langjährige Volksfreund-Abonnentin beiseite und startete den PC. Und wartete. Und wartete. Und wartete bis sich auch das Betriebssystem bequemte, die Arbeit aufzunehmen. Als sein Handy den Ententanz von sich gab, zuckte er wie immer zusammen. Kollege Graf, der Blödmann aus dem Büro nebenan, hatte ihm vor einem Monat unter dem Vorwand, ein dringendes Update warte auf den Download, diesen unsäglichen Klingelton auf dem Handy eingerichtet und weigerte sich seither standhaft, diesen Mist rückgängig zu machen. Immerhin verkürzte
der zum Ton gewordene Schrecken Humboldts Reaktionszeit bei eingehenden Anrufen auf rekordverdächtige Werte. Shaila, endlich! Er erzählte ihr von den beiden neuen Mitteilungen seit den Feierabendbieren gestern. Nach kurzem Nachdenken sagte sie bestimmt: »Carl, überleg! Da treibt jemand ein Spiel mit Dir! Du bist Journalist und kein Treuhänder. Was ist sein Interesse an Dir? Warum sollte ein Lottogewinner freiwillig auf sich aufmerksam machen wollen?« Die Frage, musste Humboldt sich eingestehen, hatte was.
KAPITEL 7
Cornelia Zahner war eine langweilige Person. Als Romanfigur würde sie wohl früh in der Geschichte geopfert werden, damit der Leser wegen ihr nicht schläfrig wird. Kein Wunder war genau dies auch ihr Schicksal hier und heute, als sie einem alten Bekannten leichtsinnigerweise die Türe öffnete.
Mit Ende Dreissig sah Frau Zahner aus wie Mitte
Fünfzig. Und meist fühlte sie sich auch so. Ihre Haut
war so grau wie ihr Alltag, ihre Haare so spröde wie ihr
Charakter. Seit ihr Mann, damals Lehrer wie sie an der
Krauchtaler Schule, vor dreizehn Jahren unter nie ganz
geklärten Umständen nach einer Weihnachtsfeier
den Weg nach Hause verpasst hatte und tags darauf
erfroren im Wald aufgefunden wurde, hatte sich die
Witwe Zahner weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und war stattdessen religiös geworden.
Ihr Teilzeitpensum als Biologie-Lehrerin versah sie
unauffällig, nie gab es Klagen, nie gab es Lob. Ihr Gemeinderatsamt als politische Vorsteherin des Schulbetriebs im Nebenamt und der sonntägliche Besuch der heiligen Messe in der katholischen Kirche Krauchtal blieben ihre einzigen öffentlichen Auftritte ausserhalb der Schule. Cornelia Zahners wahre Leidenschaft galt den Orpington-Hühnern, die sie in ihrem Garten hielt. Aus England stammend waren sie grösser und schwerer als die einheimischen Rassen: also hervorragende Eier- und Fleischproduzenten. Und der Leuen war Abnehmer für beides. Milo Babic und der verstorbene Klaus Zahner waren damals beste Freunde. Und Babic fühlte sich darum der Hinterbliebenen verpflichtet, ihr mit dem regelmässigen Kauf von Hühnerfleisch und -Eiern etwas Gutes zu tun.
Ansonsten interessierte sich niemand für die Hühner,
und niemand interessierte sich für Cornelia Zahner.
Dass ihrem Leben nun an einem gewöhnlichen Dienstag
ein so eigenwilliges und gewaltsames Ende bereitet
würde, war so gesehen eine überraschende und
für sie selbst durchaus unpassende Wendung. Und
dass dabei ein Ei aus ihrem Hühnerstall eine entscheidende Rolle spielte, war bittere Ironie. Opfer und Täter begrüssten sich herzlich, wie es sich für Altbekannte gehört. Und als die beiden sich kurz nach dem Eindunkeln mit zwei Gläsern Eierlikör aus eigener Produktion zuprosteten, schmeckte sie das starke Beruhigungsmittel, das der Besuch unbeobachtet in ihr Glas gab, in der klebrig-süssen Masse nicht. »Ich bin ja so gerne in ihrer Gesellschaft«, sagte sie frei von jeglichen Anzüglichkeiten.
Nach dem Gottesdienst-Besuch am Sonntag und den Montagslektionen in der Schule fiel sie tags darauf öfter in ein emotionales Loch. Da kam ihr Besuch gerade recht. »Erzählen Sie, wie war Ihr Wochenende?« Trotz langer Bekanntschaft siezten sie sich beide. »Das Alter, meine Liebe. Es strengt mich tatsächlich immer mehr an.« Der Mann tat einen tiefen Seufzer und schaute nachdenklich in die zähe gelbe Flüssigkeit. »Da kommt so ein Gläschen Zaubertrank gerade recht. Sehr zum Wohle uns beiden!«
Schon nach dem zweiten Schluck dämmerte Cornelia
Zahner in ihrem weichen Fauteuil langsam weg.
Vertrag den Alkohol einfach nicht mehr, dachte sie
noch. Immer nur die wenigen Schlückchen Messwein
… »Cornelia? Liebe Frau Zahner, wie geht es
Ihnen?« fragte ihr Gegenüber. Zunge und Lippen gehorchten ihr nicht mehr. Ihr Blick wurde glasig, versuchte einen Punkt zu fixieren. Vergeblich. Der Gast
sass ihr nun wortlos gegenüber. Er genoss den Moment
der Rache für einen Moment und griff dann in
seine Jackentasche. Als ihr ohne Gegenwehr ein ungeschältes Orpington-Ei in den Rachen geschoben
wurde, vernahm sie nur noch knapp die Worte: »Für
Dein Schweigen. Damals.« Dann wurde die Luft knapp
und ihre Welt dunkel. Cornelia Zahner und das Leben:
sie wurden voneinander erlöst.
KAPITEL 8
»Wart nur Sunny. Heut schreiben wir Geschichte.« Es
war 5 vor 10, und Humboldt hatte die Infos zusammen
für den ersten Aufmacher zum Thema »Jackpot für
Krauchtal«: Tatsächlich bestätigte Swisslos, dass der
187-Millionen-Schein in Kirchwil, dem nächst grösseren
Ort talabwärts, abgegeben wurde. Weitere Infos,
insbesondere zum Gewinner, gab es natürlich keine.
Die brauchte er im Moment aber auch nicht. Die Story
würde auch so für genügend Wirbel sorgen. Die Frage
war nur, ob Tanner die Quellenlage genügte. »Zur Not
machen wir ein Fragezeichen hinten hin«, schlug Humboldt an der Redaktionssitzung selbst vor. »Was Fragezeichen??? Das hat ein verdammtes Ausrufezeichen
verdient!!!« Der fremde Brauch des Lächelns war Tanner
auch in diesem Moment gänzlich unbekannt. Immerhin
schien Sunny Humboldts Ratschlag in Sachen
Deo für den Chef beherzigt zu haben. Ein billiger Duft,
zu stark aufgetragen, lag in der Luft. »Aufmacher, vierspaltig, dazu zwei Kästchen: eins zu den erwarteten
Steuereinnahmen, eins mit der Stellungnahme der Gemeindepräsidentin. Alles für morgen. Online warten
wir noch. Sonst haben die nationalen Geier das morgen
auch schon im Blatt«, befahl Tanner. Das sah jetzt
schwer nach Arbeit aus, und das war nur sehr bedingt
im Sinne Humboldts. »Könnten nicht auch Graf und
seine Praktikantin?« fragte er mit Blick auf den 10 Jahre
jüngeren Kollegen, der sich meist mit Belanglosigkeiten
aus dem Toggenburger Vereinsleben aufhielt. Als
er seinen Namen hörte, schweifte Grafs Blick Richtung
Fenster und fixierte dort einen Punkt, der unendlich
weit entfernt sein musste. »Bitte Humboldt. Da hast
Du einmal im Leben eine richtig fette gute Geschichte,
und willst sie gleich wieder abgeben? Kommt nicht
in Frage«, meinte Tanner bestimmt. »An die Arbeit.
Und vorläufig Stillschweigen, verstanden?« Kollege
Graf schwankte zwischen etwas Neid für Humboldts
gute Geschichte und viel Schadenfreude für die Mehrarbeit, die nun auf den Streber wartete.
»Ach Humbi! Ich bin ja sooo stolz …« »Humbi« war
Sunnys Rache an Humboldts »Sunny«. »Und sag meinem Schwesterchen einen lieben Gruss.« Simone Krüger war Sunnys zwei Jahre jüngere Schwester. Mit nur
halb so viel Schönheit gesegnet und halb so wenig
Skrupel versehen wie Sunny, schaffte es Simone mit
Mitte Dreissig problemlos an die Spitze der politischen
Gemeinde Krauchtal, wo sie ebenso taten- wie auch
hilflos der Entvölkerung des Tals zuschauen musste.
Aber die Kombination von »Politik« und »Ehrgeiz« und
»Selbstvertrauen« zündete auch hier auf dem Land,
wo fähiges Personal rar war, tadellos. Ihren höheren
politischen Ambitionen kam der mutmassliche Millionensegen für Krauchtal bestimmt entgegen, war sich Humboldt sicher. Nur: Wie heftig dieser Segen ausfiel, darüber musste er sich erstmal schlau machen.
»Steueramt, Hartmann.« Nach nur zweimal Klingeln
nahm Boris Hartmann ab. Wer mochte schon Steuerbeamte?
Etwas litt auch er darunter. Aber die Zeit härtet
einen Hartmann ab. Noch sieben Jahre sind’s bis
zur frühzeitigen Pensionierung. Und seit er vor drei
Jahren von Kirchwil nach Krauchtal versetzt wurde
(Gerüchte, er habe der 17jährigen KV-Stiftin eine Spur
zu lange nachgeschaut, wollten nicht verstummen)
brannte er auf die Gelegenheit, der Welt zu zeigen,
was für ein ausserordentlich hartnäckiger Steuerbeamte
er war und dass jede – auch gerne grössere –
Gemeinde sich glücklich hätte schätzen können, ihn
in ihren Reihen zu wissen. Diese Gelegenheit sollte
nun kommen. Und sie begann an diesem Tag mit dem
Anruf des Journalisten Carl Humboldt. Schon nach der
ersten Frage leckte Hartmann Blut. Das war seine
Chance. Das war sie in der Tat, wenn auch am Ende
die Geschichte so gar nicht im Sinne Hartmanns ausgehen sollte.
KAPITEL 9
»Zweimal Gross-Kleinschreibung, vier Komma-Fehler
und einmal Dativ statt Genitiv.« Es hörte sich an wie
eine Bestellung im Restaurant. Gerade noch rechtzeitig
vor Redaktionsschluss schickte Shaila die gegengelesenen Texte an Humboldt zurück. Meist hatte sie Zeit dafür zwischen den wenigen Gästen im Red Tiger.
»Das war schon schlechter, lieber Carl.« Ihr gelang es,
dabei nicht herablassend zu tönen. Humboldt nahm
die Korrekturen gerne entgegen. Lieber so, als wenn
Chef Tanner, der blöde Graf oder gar die Praktikantin
die Fehler entdeckt hätten.
Der Hauptartikel handelte schmucklos die Fakten
ab, die an sich schon spektakulär genug waren:
»Rekord-Jackpot für Krauchtal« lautete die Schlagzeile.
Der Lottoschein, der am Freitag als einziger
die richtigen Zahlen bei den Euromillions tippte, war
laut Auskunft von Swisslos in Kirchwil abgegeben
worden. Und gemäss Informationen, die dieser Zeitung
exklusiv vorlägen, sei der Gewinner oder die
Gewinnerin in Krauchtal wohnhaft. Einer von 984 Einwohnern, abzüglich der Kinder: ein überschaubares
Trüppchen von Verdächtigen. Jeder konnte es sein:
der Nachbar, die Arbeitskollegin, der Lehrling, der
in der Migros die Gestelle auffüllt. So leicht würde
niemand in den nächsten Tagen Gipfeli in der Pause
spendieren, ohne subito verdächtigt zu werden, der
Gewinner zu sein.
Im ersten Kästchen, das Humboldt zum Aufmacher
stellte, rechnete der Chef des Steueramts, Boris Hartmann, vor, dass je nach Religionszugehörigkeit und
Zivilstand des Gewinners in der Wohngemeinde allein
zwischen 18 und 25 Millionen Franken Steuern fällig
würden. Die genaue Veranlagung hinge noch von
Details ab. Aber er rechne mindestens mit einem Betrag
im zweistelligen Millionenbereich, gab Hartmann
so emotionsfrei wie möglich zu Protokoll. Viel Geld
jedenfalls, das, so der Tenor des zweiten Kästchens,
in nachhaltige Projekte zum Wohle der Gemeinde, ja
der gesamten Region Toggenburg eingesetzt werden
sollte. Natürlich entscheide, so Gemeindepräsidentin
Simone Krüger ganz staatsmännisch (,staatsfraulich‘
existiert im Duden nicht), am Schluss der Stimmbürger,
ob das Steuergeld in einen Innovationspark oder
einen Wellness-Tempel fliesse. Sie sei jedenfalls bestrebt, das weitere Vorgehen so transparent und zügig
wie möglich abzuwickeln. Die Einberufung einer Gemeindeversammlung in den nächsten Tagen schiene
ihr ein probates Mittel dazu.
»Schöne Leistung«, murmelte Tanner in sich hinein,
als er Humboldts Texte las. Er tat sich sichtlich schwer
mit Lob. Immerhin stand das Simoni-Panettone-Problem
nun nicht mehr ganz oben auf der To-Do-Liste.
»Der Online-Push geht erst um 8 raus …«, » …damit
sich die schwindende Zahl der Zeitungsabonnenten
nicht einmal mehr verschaukelt fühlt«, machte Humboldt
für sich den Satz fertig. »Und überleg Dir eine
Hand voll Folgegeschichten. Den Teig kneten wir noch
eine ganze Zeit lang«, so Tanner. Humboldt glaubte
gern, dass dieses Bild keine Anspielung auf Simonis
Panettone war. Soviel Esprit wollte er seinem Chef
nicht unterstellen.
Einmal mehr das Betteln versäumt, dachte Shaila
beim Kassensturz. Da blieb nie viel Geld am Schluss
des Tages übrig, seit ihre Mutter nach Sri Lanka zurückgekehrt war. Dank deren Curry fanden immerhin
einige Landsleute den Weg nach Krauchtal: Familienfeste, Geburts- und Feiertage sorgten damals wellenartig für schöne Umsätze. Für einheimische Gaumen aber war Mutters Küche zu wenig kompromissbereit. Sie hatte ihre Prinzipien. Auch dieses Gen schien Shaila in sich zu tragen. Kemal, der als ehemalige Aushilfe nach Mutters Heimreise die Küche übernahm, erreichte in Sachen Curry leider nicht ganz die Meisterschaft,um die Gäste auf Dauer zu halten. Heute drei Essen, gestern zwei. Für die Jassrunde und das Feierabendbier zogen die Einheimischen – mit Ausnahme von Carl – den Leuen vor.
Wie lange konnte sie das Red Tiger noch halten?
Vaters Lebensversicherung gab einen gewissen
Rückhalt. Aber das Geld löste sich wegen der Fixkosten
des Tigers schneller auf als ein Eiswürfel an
der Sonne Sri Lankas. Nicht, dass Shaila diese gekannt
hätte: Sri Lanka blieb eine Idee, genährt durch
die Erzählungen ihrer Mutter von früher. Nun steckte
sie jedenfalls in Krauchtal fest, spürte die neidischen
Blicke der einheimischen Frauen und die lüsternen
der Männer. Doch ihrer Mutter nachreisen in ein ihr
unbekanntes Land, das für sie auch keine Heimat
war? Und dabei die bequemen Segnungen der europäischen Zivilisation einfach so zurücklassen? Züge
die pünktlich fuhren, Licht das immer brannte, eine
Spülung, die einfach spült.
Die Bequemlichkeit, da war die Shaila dem Phlegma
Humboldts durchaus nah. Überhaupt der Carl. Den
mochte sie sehr und hoffte inständig, dabei nicht
einem lange vermissten Vaterbild nachzujagen. Sie
freute sich jetzt und heute mit ihm über diese komische
Jackpot-Geschichte. Die schien ihm einen bis
anhin unbekannten Elan zu verleihen. Bleib dran, Carl!
Aber lass Dich nicht reinlegen.
An Tagen wie diesen wünschte sich Shaila eine
starke Person an ihrer Seite. Jemand, der nicht blendet,
und sich auch nicht von Shailas attraktiven Äusserem
blenden liess. Jemand, der sie ernst nahm, der
ihr hier half. Was ganz Altmodisches wünschte sie
sich: Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit. Shaila träumte
weiter und überlegte kurz, was sie wohl mit 187 Millionen Franken anstellen würde. Erstaunt stellte sie fest, dass sie keine schnelle Antwort hatte. Glück kaufen? Frieden stiften. Sinn finden! Genau, das war’s: Einen Sinn fürs Lebens finden, weil sie ja doch davon ausging,dass es ihr einziges war. Und hoffentlich noch
etwas dauerte.
KAPITEL 10
»Geldregen für ein kleines Dorf« titelte der Tagesanzeiger online. »Millionen-Jackpot! Wer ist der Gewinner?« fragte blick.ch. Tatsächlich schaffte es eine Meldung
des Toggenburger Volksfreunds zum ersten Mal seit
Menschengedenken in die überregionalen Medien.
Sogar die nationale Nachrichtenagentur vermeldete
gewohnt trocken, aber wie alle anderen immerhin mit
Bezug auf den Volksfreund: »Toggenburger Dorf freut
sich über Millionen. Gemeindepräsidentin verspricht
nachhaltige Entwicklung.«
Sunny füllte die Gipfel aus Simonis Bäckerei in eine
Schale und spendierte dazu – auf Anregung von
Tanner – eine Schachtel Nespresso Kaffee-Tabs zu
Handen der Redaktionssitzung. So was verstand er
unter Wertschätzung. »Gratulation!« murmelte Tanner,
mehr zu sich selbst als in die Runde. »Wollte mit Simoni
einen Termin abmachen«, flüsterte Sunny Humboldt
zu. »Aber der war nicht in der Bäckerei heut Morgen.
Das Personal schien ebenso erleichtert wie ratlos.
Seine Frau sagte was von Weiterbildung.« Egal. Beide
wussten, dass die Simoni-Geschichte nun sowieso für
einige Tage in den Hintergrund rückte. »Gratulation!«,
wiederholte sich Tanner. »Schön gemacht, Team! Aber
nun legen wir nach«, begann er die Redaktionssitzung
am abgegriffenen und leicht schwankenden Stehtisch.
»Arschloch«, dachte Humboldt einmal mehr. Es war
seine Geschichte, aber das »Schön gemacht« legte die
grösstmögliche Distanz zwischen dem Absender und
dem eigentlichen Adressaten. Und wen meinte er mit
Team und wir? »Ich will morgen die Seite 1 voll damit:
Umfragen, Reaktionen, Einschätzungen. Und ab jetzt
wird alles sofort gepusht. Wir behalten den Lead!«
plusterte Tanner sich auf. Natürlich war das Quatsch.
Natürlich würden die anderen nun übernehmen, die
öffentlich-rechtlichen TV- und Radio-Stationen mit
ihren unbegrenzten Möglichkeiten, die nationalen
Boulevardzeitungen, die sich wie hungrige Heuschrecken
auf die »Jackpot«-Geschichte stürzten. Humboldt
lehnte sich zurück, betrachtete seine Fingerspitzen,
und nahm sein iPhone in die Hand. Er öffnete die letzte
Unterhaltung mit dem Unbekannten und tippte:
Heute, 10.44
Zufrieden?
10.57
Gut gemacht. Kompliment.
Aber jetzt beginnt die Arbeit.
Bereit?
Humboldt wunderte sich kurz. Kein Schreibfehler diesmal.
Alle Satzzeichen korrekt. Er zögerte kurz und
tippte dann kurz und bündig.
11.01
?
KAPITEL 11
Missmutig trottete Humboldt nach der Sitzung zurück
ins Büro. Jetzt fängt der andere auch noch an
mit Arbeit. Du kannst mich mal, dachte er. Schieb mir
ein paar von deinen Millionen rüber, und ich zeig dem
Tanner und seinem Volksfreund den Mittelfinger. Das
journalistische »Feu sacré«, das Humboldts Senior
ständig seinen Schülern predigte, war bei ihm seit
geraumer Zeit nur noch ein zartes Flämmchen, das
beim leichtesten Windstoss ganz auszugehen drohte.
Wie so viel Unheil kam die Lustlosigkeit über die
Jahre schleichend. Humboldts Ehrgeiz wurde von den
Chefs, die er hatte, Stück für Stück zurechtgestutzt
und abgeschliffen. Die Chefs waren entweder feingeistige Despoten, ungerechte Choleriker, weltfremde Autisten oder – wie in Tanners Fall – eine ungeniessbare Kombination aus all dem. Dazu kam, dass der Wert seiner Arbeit im digitalen Zeitalter bedrohlich
gegen Null tendierte. Information war ein Gut, für das
immer weniger Konsumenten zu bezahlen bereit waren.
Ein Fakt, der Humboldts Selbstwertgefühl, das
vom Elternhaus her bereits der fragilen Statur einer
Giacometti-Figur glich, weiteren Abbruch tat.
Als er kurz vor Mittag immer noch auf das leere
weisse Rechteck auf dem Bildschirm starrte, musste
er zugeben: Ich steck in einem kreativen Loch. Kein
Plan für einen ersten Satz zum Thema Lottogewinn.
Sollte er das Business wechseln? Als Bierzapfer ins
Red Tiger? Bahnhofsvorstand in Krauchtal? Und so
begann Humboldt eine Liste mit Berufen, die er lieber
ausübte als den hier. Flink hüpften die Finger plötzlich
über die Tastatur. Schreibblockade ausgetrickst. Als
er nach einigen Minuten die erste Seite voll hatte und
beim »Totengräber« angekommen war, hielt er inne.
Fertig geträumt. Jetzt hatte ihn die Gegenwart wieder.
Totengräber. Eine gute Wahl, denn Humboldts journalistische Lebensversicherung war in der Tat der Tod. Die Ausgangslage war: Gestorben wird immer. Und
so kam Tanner in Anbetracht der immer spärlicher
fliessenden Werbegelder auf die Idee, eine neue Einnahmequelle anzuzapfen: Für jede gebuchte Todesanzeige bot der Volksfreund – gegen einen kleinen Aufpreis – einen persönlichen Nachruf an, der, natürlich mit Foto, im redaktionellen Teil des Volksfreunds erschien. Im Herbst und Winter wurde mehr gestorben. Die Saison war gerade erst eröffnet.
Niemand auf der Redaktion riss sich um die makabre
Aufgabe. Und so kam es, dass Humboldt das
Ressort Nachrufe übernahm, das gesicherte Aufträge
bereithielt und dazu meist frei von Zeitdruck oder
aufwändiger Recherche war. Mit der Eloquenz eines
Bestattungsunternehmers setzte Humboldt seine anteilnehmende Miene auf und führte das Gespräch mit
einem Hinterbliebenen, meist die Tochter des Hauses,
kramte in Schachteln mit alten, vergilbten Fotos
und entschied sich für eine Aufnahme, die den Verstorbenen in möglichst günstigem Licht zeigte: Beim
Hochstemmen des Pokals für den legendären Kreisliga-
Cupsieg des FC Krauchtal anno 1961, beim Verkauf
von selbst gebackenem Kuchen zu Gunsten der mitt38
lerweile aufgelösten Pfadfinder-Abteilung Krauchtal
oder bei der Entgegennahme des Früchtekorbs anlässlich einer Tombola im Saal des Leuen. Oder bei der Eröffnung des eigenen Geschäfts respektive einem
Jubiläum desselben: Wie beim Kobelt Franz, der zum
20jährigen Wirte-Jubiläum stolz vor dem Red Tiger
posierte, seine geschäftige Frau an der einen und
seine damals schon wunderschöne Tochter Shaila
an der anderen Seite. Ein Bild aus glücklichen Tagen.
Humboldt gab es nie zurück, sondern bewahrte es
zusammengefaltet in seiner Brieftasche auf.
KAPITEL 12
Google und Co. sei Dank: Schon am frühen Nachmittag
war der Artikel »Lottogewinner, und was aus ihnen
wurde« fertig. Nur wenige der Gewinner wurden
glücklich. Viele waren nach einigen Monaten oder
Jahren wieder arm wie eine Kirchenmaus. Humboldt
war zufrieden mit seiner Arbeit. Er hatte geliefert. Solide.
Pünktlich. Tanner verlangte weitere Geschichten.
Auf das billige Deo packte er nun noch ein aufdringliches
Rasierwasser obendrauf. Humboldt würde wieder
mit Sunny reden müssen. »Ein Interview mit dem
Lottogewinner, das wäre doch ganz famos«, meinte
Tanner naiv. »Keine Chance«, winkte Humboldt ab.
»Swisslotto gibt keine Auskunft.« Was ja auch vernünftig
war, wenn man bedenkt, was über einen Millionengewinner hereinbricht. Und sein privater Informant?
Die Telefon-Nummer hatte keinen Besitzer, jedenfalls
keinen, der irgendwo registriert ist. Vermutlich
ein Prepaid-Handy, so fantastisch anonym wie bis vor
einigen Jahren ein Schweizer Nummernkonto. Die
neuen Steuervereinbarungen machten es auch für
Lottogewinner immer schwieriger, das Geld am Fiskus
vorbei zu schleusen. Am sichersten stapelte man die
Notenbündel bei sich zu Hause im Estrich. Und, das
riet nun auch Swisslos, führte weiterhin ein möglichst
unauffälliges Leben. Sicher war diese Lösung freilich
nur im Hinblick aufs Steueramt. Ansonsten, dazu riet
allerdings niemand offiziell, blieb nur der Transfer des
Geldes auf eine Bank in eine der Staaten, die auf der
schwarzen Liste der EU standen, weil diese sich einen
Dreck um einen Informationsaustausch kümmerten.
Deren Angebot: Wir passen diskret auf Dein Geld auf
und verlangen eine Verwaltungsgebühr, die in keinem
Verhältnis zur Versteuerung steht.
»Die Abhandlung über Steuervermeidung kannst Du
Dir sparen«, meinte Tanner am Nachmittag. »Zu theoretisch, und nur für den Lottogewinner von Interesse.«
Da hatte Scheiss-Kollege Graf, das musste sogar Humboldt zugeben, einen besseren Vorschlag: »Wir machen eine Liste mit Ideen, was Krauchtal mit den Millionen erwarteter Steuereinnahmen tun könnte.« »Plus eine Vox Pop dazu«, ergänzte seine Praktikantin, froh über die Aussicht, dank der Umfrage wenigstens für
einige Stunden an die frische Luft und unter normale
Leute zu kommen. »Und eine Sidestory über das Echo,
das unsere Geschichte in den nationalen Medien ausgelöst hat«, versuchte Humboldt sich zurück ins Spiel
zu bringen. »Etwas viel Selbstbeweihräucherung«,
kommentierte Tanner, um dann doch noch ein Einsehen
zu haben: »Andererseits haben wir auch selten
Grund dazu.«
KAPITEL 13
Am Mittwoch, dem Tag, an dem Leuenwirt Milo Babic
spurlos verschwand, nahm die Geschichte rund um
den 187-Millionen-Jackpot dank Humboldts Artikel
richtig Fahrt auf: Auswärtige Medien schickten ihre
Korrespondenten ins Tal, politische Parteien stellten
erste Forderungen auf, was mit den mutmasslichen
Steuereinnahmen zu geschehen habe: Investieren,
Sparen, Verschenken – die ganze Bandbreite an mehr
oder weniger sinnvollen Ideen.
Im nächstgelegenen Polizeiposten in Kirchwil nahm
Oberleutnant Georg Michel missmutig das Telefon ab.
Michel war ein Polizist, wie er im Buche steht. Zwar
schmeichelte auch ihm die Uniform keineswegs. Aber
er trug sie mit Stolz und Würde. Und sein Schnauz
war immer korrekt getrimmt. Er hatte gerade die letzten
Parkbussen abgeheftet und begann sich etwas
zu langweilen, als das Telefon wie bestellt schellte.
Das Sodbrennen bringt mich noch um, dachte er
beim Abheben. Und lag damit, wie so oft bei seinen
Prognosen, deutlich daneben. »Polizeiposten Kirchwil.
Oberleutnant Michel.« »Knäbel am Apparat.« Das
waren nun überraschende Informationen, denn der
Schulleiter von Krauchtal meldete eine seiner Lehrkräfte
als vermisst. »Cornelia Zahner ist eine äusserst
pflichtbewusste Person. Nie würde sie ohne triftigen
Grund unentschuldigt vom Unterricht fernbleiben«,
versicherte Knäbel. »Hmmm.« Michel machte ein undefinierbares Geräusch in den Hörer und versuchte so
etwas Zeit zu gewinnen. »Seit wann denn in etwa so?«
»Seit heute Morgen. Die 3a. Biologie von 9.15 – 10.05.«
Michel legte sich sachte die Antwort im Kopf zurecht
und malte Kringel auf den Zettel vor sich: »Wissen Sie,
Herr Knäbel. Gut rufen Sie uns an und melden, wenn
was verdächtig ist. Aber eine erwachsene Person, die
seit …«, er brauchte einen Moment, um zu rechnen:
» … knapp vier Stunden verschwunden ist. Da bin ich
jetzt, bei allem Respekt, noch nicht extrem alarmiert.«
In der Schweiz werden jedes Jahr hunderte von Männern
und Frauen als vermisst gemeldet. Die meisten
tauchen nach einigen Tagen unversehrt wieder auf.
»Frau Zahner ist zweifelsohne eine erwachsene Person,
und ihr Fernbleiben ist momentan nur aus arbeitsrechtlichen Gründen verdächtig. Natürlich wird Ihr Anruf, lieber Herr Knäbel, bei uns registriert. Aber Sie
verstehen bestimmt auch, dass ich heute noch kein
Sondereinsatz-Kommando zusammenstelle.« »Was
raten Sie mir denn?« Knäbel schien ernsthaft besorgt.
Michel hörte durch das Telefon, wie er nervös die Mine
seines Kugelschreibers rein- und rausdrückte. »Ersatz
für die weiteren Biologie-Stunden suchen«, riet Michel
wenig senibel. Das Schweigen am anderen Ende deutete
er für einmal korrekt: nicht zufrieden. So legte er
nach: »Und wo wohnt denn die Frau Zahner?« Michel
schrieb sich unter dem Blumenmuster auf dem Zettel
die Adresse auf und versprach, noch heute einen
Augenschein bei Zahners Haus zu nehmen. Was er
dort vorfinden würde, ahnte er bereits: ein ordentlich
verschlossenes Haus, keine Gewalteinwirkung an
Türen oder Fenstern. Auffällig war, so stellte Ober43
leutnant Michel einige Stunden später fest, als er auf
dem Nachhauseweg einen Abstecher zu Zahners
Haus machte, einzig eine Schar grosser Hühner, die
im Garten nach Körnern pickten. Na, die kommen als
mögliche Täter ja wohl kaum in Frage, dachte er sich
und machte immerhin eine Notiz mit Erinnerungsfunktion ins iPad: Meldung an Tierschutz Kirchwil. Gefahr von verwahrlosten Hühnern.
KAPITEL 14
Für einen unbeteiligten Betrachter glichen die Vorgänge
in Krauchtal und Umgebung einem Stileben,
wie es ein wenig begabter Maler sieht: ein Apfel, eine
Rose, ein Buch, ein Glas Wein. Alle Gegenstände einzeln
betrachtet, wollten sie sich einfach nicht recht zu
einem stimmigen Ganzen formieren. Und so brachte
vorläufig auch niemand die prominenten Abwesenden
in Krauchtal mit dem Millionen-Jackpot in Verbindung:
Cornelia Zahners Verschwinden: ungewöhnlich. Aber
ein Verbrechen? Bäcker Simoni, gekränkt von den
Enthüllungen des Volksfreunds: für einige Tage abgetaucht?
Später noch Leuen-Wirt Babic, wie schon
öfter ohne Entschuldigung in seine alte Heimat abgereist, um sich dort um die geliebten Reben in seinem Weinberg zu kümmern?
Offiziell gemeldet war zur Stunde nur Zahners Verschwinden: vorübergehend versenkt in der Bürokratie des Polizeipostens Kirchwil. Maria Simoni ihrerseits vermutete, dass die neue Praktikantin im Verkauf mit dem plötzlichen Verschwinden ihres Mannes zu tun haben könnte. Sie behielt nach aussen so gut es gingdie Kontenance. »Auf Weiterbildung«, antwortete sie schnippisch auf Fragen wie heute Morgen von der
Zeitungstussi nach dem Verbleib ihres Göttergatten.
Dabei vermutete sie ihn entweder in einer Loge
im Teatro La Fenice in Venedig oder zwischen den
Schenkeln der Praktikantin in deren Liebesnest. Beides
hatte – so musste sie bitter feststellen – tatsächlich im weitesten Sinne mit Weiterbildung zu tun. Im Leuen wiederum gingen unter der harten Fuchtel von Hana, einer Cousine von Babic, die Geschäfte ihren
gewohnt trostlosen und unaufgeregten Gang. Einen
Lichtblick gab es immerhin: Erfreut nahm sie die Reservation des grossen Saals für eine ausserordentliche Gemeindeversammlung auf übermorgen Abend entgegen. Ihre Sorge galt ab sofort der Frage, wo sie innerhalb von zwei Tagen genügend Servierpersonal auftreiben konnte, um eine mutmasslich euphorisierte Gemeindeversammlung nach allen Regeln der gastronomischen Kunst so gut es ging zu melken. Um ihren abwesenden Cousin kümmerte sich Hana im Moment nicht.
»Zwischen Steuersenkung und Wellness-Tempel«
Humboldt versuchte am frühen Mittwochabend die
Mitteilungen der Parteien zu einem Dreispalter für
die Donnerstags-Ausgabe zu verschreiben. Danach
musste die Vox Pop der Volontärin noch redigiert
werden, weil sich Graf mit einem Schnupfen frühzeitig
in den Feierabend entschuldigte. Immerhin war die
ganze Frontseite voll: »Lots of Lotto« kalauerte Humboldt vor sich hin. Tanner wartete noch auf die Themenvorschläge für morgen. So also fühlt sich Arbeit
an. Das wird das späteste Feierabendbier seit Wochen.
Andererseits fühlte er zum ersten Mal seit langem so
etwas wie Lust an der Arbeit: Zwar nur kümmerlich
anerkannt. Aber dafür schweizweit gelesen. Humboldt
hoffte, Shaila schloss den Tiger nicht schon um zehn,
wie sie es unter der Woche, wegen Mangel an Gästen,
ab und zu tat. Er checkte sein iPhone: 21.34 Uhr.
Und auch noch immer keine Nachricht von seinem
Informanten, dem mutmasslichen Jackpot-Gewinner.
Vielleicht war »?« doch zu allgemein gehalten. Zu flapsig.
Vielleicht wünschte nun der Herr (wenn Shaila mit
ihrer Vermutung denn recht hatte, was sie meistens
tat) angesprochen zu werden mit: »Ihro mit Geld vollgestopfte Hochwürden. Was darf Euer untertänigster
Diener, Lohnschreiber bei der örtlichen Dorfpostille,
für ihro Hochselig- und Geldadeligkeit als nächstes
dem gemeinen Volke mitteilen?«
Etwas Neid kam in Humboldt auf. Er kam zwar aus
wohlhabendem Hause, sein Herr Vater verdiente als
Dozent und Autor mehr als gut. Allerdings schien es
der Senior mit dem Sterben und Vererben nicht allzu
eilig zu haben. 187 Millionen … Was er mit so viel Geld
anstellen würde? Richtig: Zuerst mal ein Bier kaufen.
»Enter« »Enter« »Enter«. Nacheinander schickte Humboldt die letzten drei Texte auf ihre digitale Reise in
die Zentrale nach Kirchwil und löschte das Licht in
der Redaktion, schloss ab und hielt müde, kurz vor
22.00 Uhr, auf das Red Tiger zu. Diskret beobachtet
von einem Paar graugrünen, leicht wässrigen Augen.
Soweit lief alles nach Plan. Humboldt machte seine
Sache wie erwartet gut.
KAPITEL 15
Rechts oben neben dem Eingang flimmerte in miserabler Bild- und Tonqualität ein Bollywood-Streifen
über den betagten Bildschirm. Ergänzt wurde der
Soundtrack mit dem Klappern von Geschirr: Shaila
räumte hinter der Theke die Abwaschmaschine aus.
»Oh Carl, Du noch so spät?« Humboldt konnte ihren
Tonfall nicht deuten: Freude, Verlegenheit, Unpässlichkeit?
»Aber nur wenn’s noch noch was gibt.« Da
hörte er schon, wie sich der Kronenverschluss mit
einem leisen Plopp von der Flasche trennte und eine
Schale mit Kichererbsen gefüllt wurde. »Ich freu mich,
dass Du noch vorbeischaust«, sagte Shaila. »Hab
nicht mehr mit Deinem Besuch gerechnet.« »Tja die
Arbeit hat sich in den letzten Stunden etwas emanzipiert.
« Das war zwar als Entschuldigung gemeint, doch
schwang dafür etwas zu viel Stolz in seiner Stimme
mit. Shaila schenkte sich ein alkoholfreies Ingwerbier
ein und setzte sich zu Humboldt. »Hast Du eine neue
Nachricht bekommen?« fragte sie. Er schüttelte den
Kopf. Einige Sekunden Schweigen.
»Ich habe Sorgen«, sagte Shaila unvermittelt. Humboldt
glaubte trotzdem zu wissen, was jetzt kommt:
Das Red Tiger kostet mehr, als es einbringt. Das Problem war nicht neu. Er versuchte ihr Mut zu machen:
»Warte doch ab, was hier in den nächsten Monaten
alles abgeht. Vielleicht schafft es Krauchtal tatsächlich,
mit den Steuergeldern was Gescheites anzufangen.
Dank kluger Politik ziehen junge Familien hierher, dank grosszügigem neuem Spa und Wellness kommen viele Tagestouristen. So oder so ist das Red Tiger dann …« Humboldt redete sich gerade in Euphorie,
als Sheila seine Hand nahm: »Meine Mutter.«
Humboldt schluckte leer. »Mein Onkel hat sich heute
Abend überraschend gemeldet. Der Monsun. Meiner
Mutter ist nichts passiert, aber ihr Restaurant sei zur
Hälfte weggeschwemmt worden.« Shaila erzählte weitere Details aus dem Bericht ihres Onkels. Humboldt
sah, wie traurig sie war. Als er sich eine Viertelstunde
später und nach einem zweiten Bier auf den Heimweg
machte, merkte er, wie sich seine Prioritäten verschoben
hatten. Er tippte in sein Gerät:
Heute, 23.11
Wird die ›Arbeit‹ gut bezahlt?
KAPITEL 16
Er fühlte sich alt. Lange würde er sich vermutlich nicht
mehr an seinen Millionen freuen können. Beim letzten
Untersuch stellte sein Hausarzt einige auffällige
Werte fest und wollte ihn zu weiteren Abklärungen
ins Spital schicken. Doch er hatte abgelehnt, sich
damit auch abgefunden, seine letzten Monate wie
seine letzten Jahre hier zu verbringen: in möglichst
grosser Bescheidenheit und Abwesenheiten von
medizinischem Personal. Und nun das: 187 Millionen.
Gewonnen an einem Tag im Oktober mit den Zahlen,
die er schon seit Jahren tippte. Keine Geburtstage
dabei, keine Träume, nein einfach sechs Zahlen, die
ihm gefielen.
Als erstes spürte er einen Adrenalinschub. Heftig.
Zuerst Freude, grosse Freude. Kurz darauf – unter
massivem Alkoholeinfluss – Verwirrung und hunderte
von Fragen. Wem sollte er davon erzählen? Natürlich
seinem Financier, der ihm wöchentlich die Ausgaben
fürs Lotto spendierte. Der war grosszügig: Er begnüge
sich im Fall eines Gewinns mit 20 Prozent, war seit jeher
abgemacht. »Alles andere sei Wucher!« Der Deal
trug ihm immerhin schon einmal 47.85 Franken ein.
Der hielt bestimmt den Mund, war ja Teil seines Jobs.
Doch wem konnte er ausserdem vertrauen? Seiner
Tochter natürlich. Was hätte er dafür gegeben, wäre
sie jetzt hier und könnte sich mit ihm freuen, Pläne machen.
Aber sie trieb sich irgendwo in der Grossstadt
rum, nahm das Telefon ausnahmsweise nicht ab, aus50
gerechnet heute. Sich alleine am vielen Geld freuen,
machte irgendwie … keine richtige Freude.
Aber das Geld machte ihn endlich unabhängig. Ein
Zustand, den er seinen Lebtag bis heute nie erreicht
hatte. So machte er sich an die Arbeit, um hier im Tal
wenigstens etwas aufzuräumen. Eine späte Rache für
eine lebenslange Demütigung und eine zerstörte Familie.
Das wollte gut geplant sein. Er nahm sein neu
erworbenes Prepaid-Gerät und schrieb – mittlerweile
arg betrunken – am Sonntagabend bereits eine Nachricht
an Milo Babics Nummer, die er beruflich in einem
zweiten Handy gespeichert hatte:
Heute, 23.12
Guten Abnd Herr Babic. ich möchte
ein grosses Fest veranstalten. Am
liebsten im leuen. Was meinen sie
Können wir uns bald treffen
Erwartet schnell kam die Antwort, schliesslich ging’s
hier um mutmasslich viel Geld. Natürlich könne man
sich treffen. Je schneller desto besser. Mittwoch passe
zum Beispiel sehr gut, am liebsten am Nachmittag.
Aus Diskretionsgründen, so schrieb der mutmassliche
Auftraggeber zurück, wäre ein Treffen ausserhalb
des Dorfes angezeigt. Ob er, Babic, die Kristallhöhlen
kenne? Ein ungewöhnlicher Ort für eine Besprechung.
Aber Babic fragte freundlicherweise nicht nach, sagte
zu und schrieb brav ein »K.H.« in seine Agenda.
KAPITEL 17
Auf der Krauchtaler Gemeindekanzlei herrschte am
Mittwoch schon am Morgen rege Betriebsamkeit.
Gemeindepräsidentin Simone Krüger wusste dank
ihrer Schwester schon am Vorabend vom Jackpot für
Krauchtal. Ihr war schnell klar, was zu tun war. Aktiv
werden. Sofort eine Gemeindeversammlung einberufen.
Es wurde eine kurze Nacht. Simone wusste in
ihrem Leben schon früh, was sie wollte. Von dem zog
sie das ab, was sie nicht erreichen konnte und verfolgte
das, was übrigblieb, mit ganzer Konsequenz.
Das machte sie klar und stark. Und für den, der dafür
ein Auge hatte, sogar attraktiv. Am nächsten Morgen
hatte Simone Krüger einen Schlachtplan.
Der Artikel im Volksfreund hatte eingeschlagen.
Auch im Rest des Landes. Eine neue Sau wurde
durchs mediale Dorf getrieben. Simone Krüger war
in ihrem Element. Sie hatte schnell reagiert, professionell. TV-Interviews, Anfragen von Zeitungen und Agenturen, ein Foto hier, ein Foto da. So hatte die
Geschichte einen Kopf, solange nicht der des eigentlichen Gewinners bekannt wurde, was äusserst selten der Fall war. Simone Krüger wusste: Das war ihre
Chance. Die Millionen für ihre Gemeinde mussten mit
ihrem Namen verknüpft bleiben. Goldene Aussichten
für ihre Ambitionen auf ein Regierungsamt auf nächsthöherer Ebene.
Doch nun galt es kühlen Kopf zu bewahren. Die Gemeindeversammlung hatte zum Glück nur konsultativen Charakter: Die Einwohner von Krauchtal konnten wohl Vorschläge einbringen, entscheiden würde sie.
Und das Gremium von Amateuren, das den Gesamtgemeinderat bildete und das sie nach Belieben manipulieren konnte: Giovanoli, eine Million für ihn: ein neues Löschfahrzeug für die Feuerwehr und ein gehöriges Volksfest dazu, das Volk und der Vorstand der technischen Betriebe waren zufrieden. Für Zahner gab’s eine Rundum-Erneuerung der IT-Einrichtung an der Schule: mittlerer sechsstelliger Betrag. Da lag sogar noch ein Gratis-Apero zu Beginn des neuen Schuljahres drin.
Rudolph als Vorsteher der Sozialen Dienste darf den
Ärmsten ein Geschenk machen: Steuerbefreiung für
Einkommen unter 50’000: Peanuts. Bleibt der Chef
des Krauchtaler Bauamtes Salzmann. Mit ihm zusammen
wollte Krüger eine Vision des »Volksfreundes«
umsetzen. Ihre familiären Kontakte in die Redaktion
waren dabei im Vorfeld einmal mehr Gold wert. Schön
wenn der Vorschlag zuerst von einem neutralen Medium
kam: Wie wär’s mit einem millionenschweren
Wellness- und Spa-Zentrum, angebaut an den Leuen.
Den Einheimischen zuerst natürlich, aber auch den
Touristen und damit dem hiesigen Gewerbe und dessen
nachhaltiger Entwicklung zum Wohle.
Ein bisschen Steuerhinterziehung, viel Misstrauen
gegenüber dem meisten Fremden (Kulinarisches
selbstverständlich ausgenommen) und trotz ansehnlichem Wohlstand immer noch Lust nach mehr Geld: Eigentlich war Milo Babic ein gelungenes Beispiel für perfekte Assimilation und damit auch Integration bei
Land und Leuten in den Schweizer Voralpen. Beim
Jassen im Leuen vergass er als rücksichtsvoller Gastgeber gerne mal den einen oder anderen Wys anzugeben und spendierte im richtigen Moment eine
Runde Freibier an die siegreichen Mitspieler. Beschallt
wurde die Wirtsstube mit einer kruden Mischung aus
deutschsprachigem Schlager und volkstümlicher
Musik aus den Alpen und dem Balkan. Kurzum: Der
Stammtisch im Leuen, ein Ort, um sich wohl zu fühlen.
Neben Zahnstochern, Aromat und Maggi erinnerte nur
ein Tabasco-Fläschchen auf dem Tisch an den nicht
ganz lupenreinen Background der heimischen Idylle.
Babics Einbürgerung vor drei Jahren war reine Formsache.
Konsequenterweise amtet er an jenem Abend
als grosszügiger Gastgeber der entscheidenden Gemeindeversammlung, freilich diskret im Hintergrund.
Doch als nun, am Mittwoch kurz nach 15 Uhr, eine
Rotweinflasche mit einem gezielten Schlag auf den
Hinterkopf Babics Leben so unvermittelt beendete,
starb er also als aufrechter Schweizer. Es wäre ihm bestimmt ein Trost gewesen, hätte er gewusst, dass die
meuchelnde Flasche einen feinen Tropfen aus dem
heimischen Weinberg beherbergt hatte und darum
sogar seinen Namen (»Babic Cuvée«) trug, bevor sie
zum Mordinstrument mutierte.
Der Täter betrachtete angewidert die Sauerei, die
er selber angerichtet hatte. Schon wieder ein Freundschaftsdienst.
Tolle Freundschaft. Aber eben: Eine
Hand wäscht die andere … Guter Input. Flasche abwischen, nur keine Fingerabdrücke. Danach warf er
sie achtlos in eine Ecke und schleifte Babics Leiche
mühsam an den Rand des Sees in der Kristallhöhle.
Schon wieder so eine Plackerei. Die Mehlsäcke bei
Simoni hinterliessen einen dumpfen Schmerz in seiner
Lendengegend. Aber der hier wog bestimmt vier Säcke
aufs Mal. Nach über zehn Minuten gab er dem leblosen
Körper endlich einen Tritt und schaute zufrieden
zu, wie er unter die Wasseroberfläche verschwand. Er
beschwerte die Leiche absichtlich nicht. Soll sie ruhig
nach einer gewissen Zeit wieder auftauchen. Das war
Teil des Plans.
KAPITEL 18
Die Satelliten-Schüssel auf dem Übertragungswagen
des Fernsehens vor dem Leuen wurde nochmals neu
ausgerichtet. Das Regional-Radio und die zahllosen
Online-Medien, die den Anlass wie einen Fussballmatch
live tickerten, brachten ihre Mikrophone und
Kameras in Stellung. Es war angerichtet. Vor dem
Leuen versuchte sich Roger Häberlin vom Privatsender
»Tele Schweiz 2« zum wiederholten Mal an einem
In-Statement: »Die Spannung ist mit Händen zu greifen
hier in Krauchtal.« Dabei machte er eine unbeholfene
Geste über die Landschaft mit seiner rechten Hand
und schaute ernst in die Kamera. Kurze Kunstpause.
»Wohin mit den Millionen? Das fragt sich, landauf
landab … Äh … Faden verloren, gopferdammi! Schnitt.
Ich mach’s nochmal …« Kurzes Räuspern, dann: »Die
Spannung hier ist mit Händen zu fassen … hier vor
dem Krauchtaler Gemeindesaal respektive vor dem
Leuen hier in Krauchtal. Da, wo …äh …« Wenn’s so gut
läuft, würde er mit den 20 Sekunden Take fertig noch
bevor die Versammlung losging, sprach sich Roger
selber Mut zu.
Im Leuen drinnen hatte Hana ihr ganzes Personal
aufgeboten, immerhin war heute eine Gemeindeversammlung mit Rekordbeteiligung zu erwarten. Humboldt lehnte sich an eine der Säulen im hinteren Bereich des Saals und betrachtete den Zirkus aus etwas Distanz. Nun hatte er die Story also verloren, an die anderen, die nationalen Player, die Geier, wie Tanner sagte. Die Medien, die sonst nie einen Fuss ins Toggenburg
setzten, aber heute das grosse Geschirr auspackten.
Simone Krüger hatte sich am Nachmittag noch
kurz mit ihrer Schwester beraten, welches Outfit angebracht
sei auf dieser für heute Abend nationalen
Bühne. Sunny riet zu diskretem Make-Up und viel
Puder. »Glänzen soll Dein Auftritt, aber nicht Deine
Nase.« Ausserdem riet sie zu flachen Schuhen – nicht
stolpern – und einem Hosenanzug. Nicht, dass letzterer
die Frau Gemeindepräsidentin besonders vorteilhaft
gekleidet hätte. Aber er strahlte Autorität und
Entschlossenheit aus, kurz: sieht scheisse aus, wirkt
aber kompetent. Sunny selber trug halbhohe Absätze
und ein auffällig gemustertes Kleid von Missioni. (Dieses
war der guten Laune Tanners verdankt, damals
beim Verlegertreffen in Mailand, zu dem sie ihn als
Assistentin begleitete.) Ihr Auftritt hatte in diesem Umfeld
einmal mehr etwas durchaus Überragendes, als
sei sie die heimliche Königin von und zu Krauchtal und
nicht ihre Schwester. Und so schwenkten die Kameras
immer wieder auf sie, wenn sie einen Zwischenschnitt
brauchten oder der Anblick der Gemeindepräsidentin
schlicht zu langweilen drohte.
Auch Humboldt blieb an Sunnys Erscheinung hängen.
Interessiert nahm er zur Kenntnis, dass Chefredaktor
Tanner heut Abend etwas Wichtigeres vorzuhaben
schien, als sich an einem der wichtigsten Anlässe
in diesem Tal seit langem zu zeigen. Erstaunlich bei
ihm, der sonst keinen Auftritt im Rampenlicht ausliess.
Humboldt hingegen gefiel sich in der Rolle des distan57
zierten Betrachters. Gemeindeversammlungen hatten
leider viel von ihrem Charme eingebüsst, seit in den
Sälen nicht mehr geraucht werden durfte, seit private
Sicherheitsfirmen alkoholisierte Anwesende aus dem
Verkehr zogen, und seit die rechtsextremen Pöbler –
hier in der Person von Bauvorstand Salzmann – selber
in die Macht eingebunden waren.
Routiniert, wenn auch mit etwas höherer Stimmlage
als üblich, begrüsste Präsidentin Krüger die versammelte
Gemeinde. Sie machte auf die Spielregeln aufmerksam:
bitte keine Wortmeldung länger als zwei Minuten.
Rassistische oder sonst wie hetzerische Voten
würden sofort unterbunden und der Fehlbare unverzüglich zum Saal heraus begleitet. Und: Die Versammlung habe ausschliesslich konsultativen Charakter. »Es geht darum, Euern Puls zu fühlen«, übersetzte sie diesen Gedanken für alle, die es nicht so mit Fremdwörtern hatten. Anschliessend erteilte sie dem Vorsteher des Steueramtes Hartmann das Wort, der sich für diesen Anlass etwas ehrgeizig in einen Anzug zwang, den er das letzte Mal vor fünf Jahren zum 50. Geburtstag
der Frau Gemahlin trug, kurz bevor diese ihn verliess.
In groben Zügen wiederholte er seine Aussagen im
Volksfreund und schloss mit der Bemerkung, gerade
bei solchen Beträgen seien Steuerdelikte keine Kavaliersdelikte mehr. Dabei liess er seinen Blick etwas
länger als nötig durch die Reihen der Versammlung
wandern.
Krüger bedankte sich bei Hartmann und gab die
Diskussion frei. Nun schien die Stimmung plötzlich
etwas gedämpft, und die Anwesenheit der vielen
Medien hemmte die Redelust noch mehr. »Jaa, ich
warte …«, versuchte Krüger etwas Zeit zu gewinnen.
Als sich endlich aus der Mitte des Saals Rolf Bäumler
erhob: »Liebe Anwesende, verehrte Frau Präsidentin.«
»Schwuchtel-Sozi«, rief jemand halblaut aus dem Dunkel
hinten im Saal, was ein nervöses Gemurmel auslöste.
»Das geht ja gut los«, dachte Krüger und fürchtete,
der Puder würde unter diesen widrigen Umständen
und im heissen Scheinwerferlicht seinen Dienst
nur noch eine befristete Zeit versehen. »Ich bitte um
Anstand und Respekt. Bitte Herr Bäumler.« Der regte
in einem umständlichen und langfädigen Votum ein
zweijähriges Steuermoratorium für Einkommen unter
70’000 Franken und damit etwas Umverteilung von
oben nach unten an. Bäumler, Geografielehrer an der
Krauchtaler Schule und damit Arbeitskollege von Frau
Zahner, versuchte vor Jahren schon vergeblich, eine
Sozialdemokratische Ortspartei zu gründen. Der spärliche Applaus zeigte ihm, dass es solche Ideen im engen Tal weiterhin schwer hatten.
Humboldt hörte sich aus sicherer Distanz die weiteren
Wortmeldungen an und machte sich lustlos einige
Notizen. Die Praktikantin übernahm den Online-Ticker,
so dass er selber keine Eile hatte. Den Einspalter für
die Front hatte er schon vor drei Stunden abgegeben:
»Gemeindeversammlung mit Rekordbeteiligung« bla
»Sachlich geführte Diskussion« blabla »Grosses Medien-
Interesse im ganzen Lande« blablabla. »Heut fällt
Feierabendbier aus« schrieb er zwischendurch Shaila,
natürlich ohne eine Reaktion darauf zu bekommen. Alfons Sonderegger, 56jähriger katholischer Pfarrer der
katholischen Kirche Krauchtal, erinnerte daran, dass
das Dach der Kirche in den nächsten Jahren einer
dringenden Renovation bedürfe, und Franz Leuthold
regte in Namen der AG Skilift die Anschaffung von
Schneekanonen und damit die Wiederbelebung des
stillgelegten Liftes an. Kevin Müller, der Platzwart des
FC, verlangte, dass die Anschaffung eines Kunstrasens
geprüft werde. Weitere Wortmeldungen folgten,
die sich alle mit mehr oder weniger kreativen Vorschlägen dem Geldausgeben widmeten, bevor Victor
Drax, Handlanger und Fahrer für das Gewerbe hier
in Krauchtal, die Stimmung etwas drückte, indem er
davor warnte, Geld auszugeben, das noch gar nicht
in der Kasse lag. Boris Hartmann machte sich einige
Notizen. Gemeindepräsidentin Krüger dankte Drax für
das konstruktive Votum und bat in diesem Sinne, langsam zum Schluss zu kommen.
Als Humboldt, mittlerweile leicht gelangweilt, seinen
Blick durch den Saal gleiten liess und dabei dachte,
dass seine Empfindlichkeit in Sachen Gerüche auch
heute wahrlich kein Segen war, da fiel es ihm auf. Ein
Detail. Aber trotzdem … wie ungewöhnlich, dachte er.
Dem wollte er morgen nachgehen. Für den Moment
hatte er andere Prioritäten: ein drittes Bier und etwas
Gesellschaft.
KAPITEL 19
Humboldt war kein Meister von post-koitalem Smalltalk
und trat darum zeitig die Flucht an. Er knöpfte sich
die Hose zu, schob das Hemd notdürftig in die Hose
und versuchte dabei sich im Zimmer zu orientieren.
04:14, zeigte die LED-Anzeige des Radioweckers. Die
Schuhe. Ohne die könnte er ja schwerlich den Gang
nach Hause, zurück in den Leuen, antreten. Vielleicht
noch drei Stunden unruhigen Schlaf, aber das war
besser als hier wach zu liegen und über die Folgen
seines Tuns nachzudenken. Don’t fuck your boss. Die
Lektion hatte er bereits gelernt. Aber nun: Don’t fuck
your bosses girlfriend – das gilt vermutlich auch.
Er stellte sicher, dass er nicht sein Handy liegen liess
und warf bei der Gelegenheit einen Blick darauf. Wie
wenn sie es geahnt hätte, eine Nachricht von Shaila:
Gestern, 22.51
Neuigkeiten?
Er hörte zwar von weitem das Bling-Bling, hatte in jenem
Moment aber alle Hände voll zu tun gehabt und
konnte darum nicht antworten. Und selbst wenn: »Ja
ich mach grad mit der Freundin meines Chefs rum«,
wäre zwar der Wahrheit so nahe wie möglich gekommen
aber bestimmt keine angemessene Replik gewesen,
dachte Humboldt, als er den feinen Duft von
Lancome hinter sich liess, leise die Tür von Sunnys
Wohnung zuzog und sich auf den Heimweg machte.
Natürlich war er Shaila keine Rechenschaft schuldig.
Aber trotzdem. Er genierte sich. Etwas. Keinesfalls
jetzt antworten. Ihr fällt auf, wenn eine SMS mit Zeitstempel 04.23 eintrifft.
Aus den erhofften drei Stunden Schlaf wurden
höchstens 90 Minuten. Aber Humboldt war danach
seltsam wach und präsent. Frisch geduscht und die
erste Ladung Koffein in den Kreislauf geschickt, fühlte
er sich bereit für die neue Recherche. Spannender als
die Anwesenden waren für ihn gestern Abend die Abwesenden.
Zufall oder nicht, das galt es als nächstes
abzuklären.
So machte er sich auf den kurzen Weg in die Redaktion,
wo ihn bereits – wenig überraschend – ein
bekanntes Gesicht erwartete. »Guten Morgen Sunny!«
versuchte es Humboldt so unverbindlich er konnte.
»Morgen Humbi«, gab Sunny wie immer zurück, ohne
ihre Augen vom Bildschirm zu lösen. Da schienen zwei
Profis am Werk.
Vorläufig beruhigt zog sich Humboldt in sein Büro
zurück und schrieb als erstes Shaila:
Heute, 08.45
Nein.
Das war zwar halbwegs korrekt, aber in Anbetracht
der Sachlage etwas zu nüchtern. So ergänzte er es
mit:
Leider nein.
Noch immer etwas knapp …
Leider nein. Wie geht es Deiner Mutter?
Humboldt hatte die Empathie zwar nicht erfunden,
aber er konnte das Wort buchstabieren. Und auch mal
im richtigen Moment anwenden. Er schickte die Nachricht ab. Zufrieden machte er sich nun an die Arbeit
und suchte als erstes drei Telefonnummern raus.
»Bäckerei Simoni, hier ist die Debbie.« Ah ja, die neue
Lehrtochter im Verkauf. »Hier Humboldt vom Volksfreund.
Hallo Debbie. Ist der Herr Simoni zu sprechen?
Es geht um einen Artikel über seinen Panettone, den
ich plane.« Pause. Am anderen Ende war das Nachdenken beinahe zu hören. Dann: »Frau Simoni meint, er sei auswärts auf Weiterbildung.« Meint, betonte Debbie. Im Wissen darum, dass das nicht stimmen konnte. Zumindest hätte Federico ihr etwas gesagt.
Und er hätte sie – so wie es in den letzten Wochen
um die beiden stand – vermutlich sogar hinter dem
Rücken seiner Frau zu der Reise eingeladen. »Und
die Frau Simoni, ist die zu sprechen?« Rascheln, die
Sprechmuschel wurde abgedeckt, und dann nach wenigen Sekunden: »Simoni.« »Guten Tag Frau Simoni,
hier Humboldt vom Volksfreund. Entschuldigen Sie
bitte die Störung, aber ist ihr Mann zu sprechen?« Das
kurze Schweigen diente wohl dazu, Anlauf zu nehmen:
»Humboldt, Schmierfink! Caca cazzo. Pezzo di merda.
Was fällt ihm ein, hier anzurufen. Hat meinen Federico
ruiniert. Cretino!« Humboldt hielt den Hörer etwas vom
Ohr weg. »Frau Simoni!« fuhr Humboldt dazwischen,
als es für einen kurzen Moment ruhig war. »Frau Simoni,
ich verstehe ihren Ärger. Darum rufe ich ja an. Ich möchte mit Herrn Simoni einen Termin …« »Ist nicht zu sprechen«, bellte es aus dem Telefon zurück. »Ist
abwesend, assente. Fort. Nicht hier.« Peep peep. Aufgelegt.
Humboldt malte ein schönes grosses Fragezeichen
neben den Namen Simoni. Es macht keinen
Sinn, dass Simoni ohne Frau oder ohne Praktikantin
verreist war.
Der Fall Babic war im Moment noch wenig ergiebig.
Auch er war wie erwartet nicht zu sprechen. Und
seine Geschäftsführerin, die Hana, ebenso wenig. Sie
habe heute frei, erhole sich vermutlich von gestern
Abend, meinte die Teilzeit-Rezeptionistin Katarina, die
nach dem Tod ihres Mannes froh war, hier etwas Beschäftigung,
etwas Geld und etwas Kontakt zu bekommen.
»Ah der Humboldt von Zimmer 11. Ja schauen
sie doch heute Abend, bevor sie aufs Zimmer gehen,
noch schnell vorbei. Ich denke dann ist einer von den
beiden da.«
Auch bei Cornelia Zahner nahm zu Hause niemand
ab. Das war zu erwarten gewesen. Zweiter Versuch
in der Schule. »Moment. Ich verbinde Sie«, versprach
die freundliche Dame vom Sekretariat. »Knäbel«,
tönte es dumpf. »Humboldt hier. Vom Volksfreund.
Guten Tag Herr Knäbel. Eigentlich wollte ich mit Frau
Zahner sprechen.« Auch hier eine Pause, die etwas
zu lang geriet. Knäbel räusperte sich. »Frau Zahner
ist momentan nicht zu sprechen.« »Oh wie eigenartig.
Wissen Sie: Ich habe sie gestern Abend nämlich
an der Gemeindeversammlung vermisst. Ich meine,
als amtierende Gemeinderätin …« Diesmal war die
Pause definitiv zu lang. »Herr Knäbel? Hallo?« Noch
einmal drei Sekunden Pause, dann: »Wir vermissen
sie auch.« Das sass. »Wie: vermissen sie?« »Sie ist seit
gestern nicht mehr zum Unterricht erschienen. Umstände.
Grosse Umstände hier intern. Ich habe Anzeige
erstattet. Also nicht hier. Aber bei der Polizei.
Da hab ich das gemeldet.« Fantastisch! Eine Vermisstenanzeige bei der Polizei. Keine Vermutung, sondern ein Fakt. Damit war, wenn Michel das bestätigt, die Story safe. Humboldt bedankte sich bei Knäbel und
wählte die nächste Nummer. »Oberleutnant Michel.«
»Ja der Georg, grüss Dich! Hier ist der Carl, dein Lieblings-Carl.« »Lass den Quatsch, Humboldt. Hab hier
grad alle Hände voll zu tun.« »So so. Liegt da etwa
grad eine Vermisstenanzeige in diesen Patsch-Händchen?« »Komm mir nicht so!« »Ein Nein tönt anders.«
»Leck mich!« »Sag das doch bitte mal wieder Deiner
Frau.« Jetzt schwieg der Oberleutnant für einen Moment.
»Du weisst schon, dass das noch nichts heisst.
Jeden Monat verschwinden in der Schweiz …« »Danke
Georg, ja das weiss ich.«
»Sunny, ich muss zu Tanner. Hab eine grandiose
Fortsetzung für die Lotto-Geschichte.« »Lieber Humbi.
Das freut mich. Aber ich habe keine Ahnung, wo Tanner
steckt.« Das waren nun doch überraschende Neuigkeiten.
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